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INSPIRATION

Das Pferd

 

Es war einmal ein alter Mann, der in einem kleinen Dorf lebte. Der Mann besaß ein wunderschönes Pferd, einen Schimmelhengst, um den ihn alle im Dorf beneideten.

Als der König von dem Hengst hörte, wollte er ihn unbedingt besitzen. Er bot einen fantastischen Preis, aber der alte Mann sagte: „Dieses Pferd ist mein bester Freund. Ich kann doch meinen besten Freund nicht verkaufen.“ Der König bot mehr und mehr Geld, aber der alte Mann gab sein geliebtes Pferd nicht her, obwohl er in bitterer Armut lebte.

Eines Tages war der Hengst verschwunden. Nachbarn kamen und sagten: „Du Dummkopf, warum hast du das Pferd nicht an den König verkauft? Nun ist es gestohlen worden, und du hast gar nichts mehr. Was für ein Unglück!“

Der alte Mann schüttelte den Kopf: „Keiner weiß, ob es ein Unglück war. Das Pferd ist nicht im Stall. Mehr wissen wir nicht.“

Ein paar Tage später war der Hengst wieder da. Und mit ihm waren zwölf Wildpferde gekommen, die sich dem Hengst angeschlossen hatten.

Jetzt waren die Leute im Dorf begeistert. „Du hast Recht gehabt“, sagten sie zu dem alten Mann. „Das Unglück war in Wirklichkeit ein Glück. Diese herrlichen Wildpferde –   nun bist du ein reicher  Mann… “

Der Alte sagte: „Das Pferd ist wieder da. Das wissen wir. Ob die Wildpferde ein Glück sind, kann niemand sagen. Das Leben geht seinen eigenen Weg. Man soll nicht urteilen.“

Die Dorfbewohner schüttelten den Kopf über den wunderlichen Alten. Warum konnte er nicht sehen, was für ein unglaubliches Glück ihm geschehen war?

Am nächsten Tag begann der Sohn des alten Mannes, die Pferde zu zähmen und zuzureiten. Nach einer Woche warf ihn eine Stute so heftig ab, dass er sich beide Beine brach.

Die Nachbarn im Dorf versammelten sich und sagten zu dem alten Mann: „Du hast Recht gehabt. Das Glück hat sich als Unglück erwiesen. Dein einziger Sohn ist jetzt ein Krüppel. Und wer soll nun auf deine alten Tage für dich sorgen?“

Aber der Alte blieb gelassen und sagte zu den Leuten im Dorf: „Mein Sohn hat sich die Beine gebrochen. Wer weiß, was das zu bedeuten hat? Warten wir ab…“

Ein paar Wochen später begann ein Krieg. Der König brauchte Soldaten, und alle wehrpflichtigen jungen Männer im Dorf wurden in die Armee gezwungen. Nur den Sohn des alten Mannes holten sie nicht ab, denn den konnten sie mit seinen Krücken nicht gebrauchen.

„Ach, was hast du wieder für ein Glück gehabt!“ riefen die Leute im Dorf.

Der Alte schüttelte den Kopf und sagte: „Wer weiß, wer weiß…“

 

 

Säen und Ernten

 

In einer Oase, ganz versteckt in einer Wüstenlandschaft, weit entfernt, kniete der alte Eliahu neben ein paar Dattenpalmen.

Sein Nachbar, der wohlhabende Kaufmann Hakim, war gekommen, um seine Kamele zu tränken und sah den schwitzenden Eliahu im Sand graben.

"Wie geht es dir, Alterchen? Friede sei mit Dir."

"Ebenso mit dir", antwortete Eliahu, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.

"Was tust du hier,, bei der Hitze, mit dem Spaten in der Hand?"

"Ich säe", antwortete der Alte.

"Was säst du denn, Eliahu?"

"Datteln", antwortete dieser und zeigte auf den ihn umgebenden Dattelhain.

"Datteln", wiederholte der Ankömmling und schloß die Augen wie jemand, der verständnisvoll auch noch der größten Dummheit lauscht. "Die Hitze hat dir das Hirn verdörrt, mein Freund. Laß die Arbeit Arbeit sein und komm mit ins Café, da trinken wir ein Gläschen Schnaps."

"Nein, ich muß erst meine Aussaat beenden. Danach können wir trinken, wenn du willst..."

"Sag, mein Freund. Wie alt bist du eigentlich?"

"Ich weiß es nicht. Sechzig, siebzig, vielleicht achtzig... Keine Ahnung. Ich habe es vergessen. Aber es ist auch völlig unwichtig."

"Sieh mal, lieber Freund. Dattelpalmen brauchen fünfzig Jahre, bis sie groß sind, und nur als ausgewachsene Palmen bringen sie Früchte hervor. Ich wünsche dir nur das Beste, wie du weißt. Hoffentlich wirst du hundert Jahre alt, aber sei dir im klaren, dass du wohl kaum die Ernte deiner Saat einholen wirst. Lass es also sein und komm mit."

"Schau mal, Hakim. Ich habe die Datteln gegessen, die ein anderer gesät hat, jemand, der davon träumte, diese Datteln zu essen. Ich säe heute, damit andere morgen die Datteln ernten können, die ich pflanze... Und wenn es auch nur zum Dank an diesen Unbekannten wäre, lohnte es sich, meine Arbeit hier zu Ende zu führen."

"Du hast mir heute eine große Lektion erteilt, Eliahu. Laß mich dir diese mit einem Sack Münzen begleichen", sprachs und drückte dem Alten einen Lederbeutel in die Hand. 

"Ich danke dir für dein Geld, mein Freund. Du siehst ja, manchmal geschieht so etwas: Du sagst mir voraus, ich werde niemals die Ernte dessen einfahren, was ich gesät habe, und das scheint auf der Hand zu liegen. Und trotzdem, stell dir vor, noch bevor ich aufgehört habe zu säen, habe ich bereits einen Sack Münzen geerntet und den Dank eines Freundes."

 

nach Bucay, J. (2010). Komm, ich erzähl dir eine Geschichte. Frankfurt: Fischer.

 

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